Pressemitteilung

Wegen verfassungswidriger Annahme fehlender Prozessfähigkeit erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen finanzgerichtliche Entscheidungen

Der Verfassungsgerichtshof für das Land Baden-Württemberg hat mit Urteil vom 16. April 2018 drei Beschlüsse des Finanzgerichts Baden-Württemberg aufgehoben, mit denen Anträge des Beschwerdeführers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe mit der Begründung abgelehnt wurden, es könne nicht von der Prozessfähigkeit des Beschwerdeführers ausgegangen werden.

 

Sachverhalt

 

Der Beschwerdeführer führt eine Vielzahl an Verfahren an baden-württem­bergischen Gerichten, auch am Finanzgericht Baden-Württemberg. Im Frühjahr 2017 hatte ein Senat des Finanzgerichts nach einem entsprechenden Hinweis und mündlicher Verhandlung eine Klage des Beschwerdeführers mit der Begründung abgewiesen, die Prozessfähigkeit des Beschwerdeführers sei nicht feststellbar.

 

Mit den mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Beschlüssen vom 9. Januar 2017 lehnte ein anderer Senat des Finanzgerichts drei Anträge des Beschwerdeführers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für noch einzuleitende Rechtsbehelfsverfahren ab. Der Senat habe ebenfalls durchgreifende Bedenken gegen die Prozessfähigkeit des Beschwerdeführers. Dieser habe seine Prozessfähigkeit weder glaubhaft gemacht noch wenigstens solche Tatsachen oder Gründe vorgetragen, die für eine Prozessfähigkeit sprechen könnten. Anhörungsrügen des Beschwerdeführers gegen die Beschlüsse blieben erfolglos.

 

Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör, des Willkürverbots und der Rechtsschutzgarantie. Zur Begründung trägt er unter anderem vor, der Senat des Finanzgerichts, der die angegriffenen Entscheidungen traf, wäre verpflichtet gewesen, ihm vor der Beschlussfassung bekanntzugeben, dass und aus welchem Grund er an seiner Prozessfähigkeit zweifelte, und ihm die Möglichkeit zur Stellungnahme zu geben. Er hätte ihn auch persönlich anhören müssen.

  

 

Wesentliche Erwägungen des Verfassungsgerichtshofs

 

 Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist begründet.

 

1. Die Beschlüsse des Finanzgerichts vom 9. Januar 2017 verletzen den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör (Art. 2 Abs. 1 der Landesverfassung [LV] in Verbindung mit Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes [GG]). Sie sind unzulässige Überraschungsentscheidungen. Der Beschwerdeführer hat entgegen der Ansicht des Finanzgerichts nicht damit rechnen müssen, dass auch der Senat, der die Beschlüsse vom 9. Januar 2017 fasste, Bedenken gegen seine Prozessfähigkeit hatte. Dass der Senat das Urteil des anderen Senats und die auf dieses Urteil ergangene Prozesskostenhilfeentscheidung des Bundesfinanzhofs kannte und mithin senatsübergreifend Entscheidungen weitergegeben würden, hat dem Beschwerdeführer nicht bekannt sein müssen. Es ist auch nicht ersichtlich, dass in der Zeit vor dem Beschluss vom 9. Januar 2017 die Prozessfähigkeit des Beschwerdeführers allgemein und nicht nur von einem Senat des Finanzgerichts bezweifelt worden war.

 

2. Die Beschlüsse des Finanzgerichts vom 9. Januar 2017 verletzen darüber hinaus die Rechtsschutzgarantie des Art. 67 Abs. 1 LV. Die Anwendung der Vorschriften über die Prozessfähigkeit durch das Finanzgericht in den Beschlüssen wird der Bedeutung und Tragweite der Rechtsschutzgarantie des Betroffenen nicht in dem von der Landesverfassung gebotenen Umfang gerecht. Indem das Finanzgericht ohne ausreichende Begründung und ohne erkennbare Rechtfertigung von der Auslegung der Vorschriften über die Prozessfähigkeit durch die höchstrichterliche Rechtsprechung und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts abweicht, wird der Zugang zum finanzgerichtlichen Verfahren für den Beschwerdeführer unzumutbar erschwert.

 

Das Finanzgericht hat weder in den den angegriffenen Beschlüssen zugrunde liegenden Verfahren zur Bewilligung von Prozesskostenhilfe eigene Ermittlungen hinsichtlich der Prozessfähigkeit des Beschwerdeführers angestellt noch dargelegt, weshalb ohne Ausschöpfung der Erkenntnismöglichkeit einer persönlichen Anhörung des Beschwerdeführers mit großer Wahrscheinlichkeit davon auszugehen ist, dass die angestrebten Klagen bzw. der angestrebte Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes mangels Prozessfähigkeit unzulässig sind. Ebenso wenig hat der Senat begründet, weshalb eine Beweisaufnahme zur Prozessfähigkeit des Beschwerdeführers von vorneherein außer Betracht bleiben konnte oder mit großer Wahrscheinlichkeit das Ergebnis erbracht hätte, der Beschwerdeführer sei prozessunfähig.

 

3. Der Verfassungsgerichtshof hat die Beschlüsse vom 9. Januar 2017 aufgehoben, die Entscheidungen über die Anhörungsrügen für gegenstandslos erklärt und die Sachen zur erneuten Entscheidung an das Finanzgericht verwiesen.

 

 

 

Zitierte Vorschriften

 

 

Art. 2 Abs. 1 LV:

Die im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland festgelegten Grundrechte und staatsbürgerlichen Rechte sind Bestandteil dieser Verfassung und unmittelbar geltendes Recht.

 

 

Art. 67 Abs. 1 LV:

Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen

 

 

 Art. 103 Abs. 1 GG:

Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör.

 

 

 

Der Verfassungsgerichtshof

 

Der Verfassungsgerichtshof für das Land Baden-Württemberg entscheidet im Rahmen gesetzlich geregelter Verfahren über die Auslegung der Landesverfassung. Die Entscheidungen ergehen regelmäßig durch neun Richterinnen und Richter. Drei Mitglieder des Verfassungsgerichtshofs sind Berufsrichter. Drei Mitglieder müssen die Befähigung zum Richteramt haben. Bei drei weiteren Mitgliedern muss diese Voraussetzung nicht vorliegen. Der Verfassungsgerichtshof entscheidet unter dem Vorsitz seines Präsidenten.

 

 

 

1 VB 50/17

 

 

https://verfgh.baden-wuerttemberg.de/de/entscheidungen/

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