Der Verfassungsgerichtshof für das Land Baden-Württemberg hat mit heute verkündeten Urteilen dem Antrag der beiden Erstunterzeichner des Volksbegehrens „XXL-Landtag verhindern!“ stattgegeben und festgestellt, dass das Volksbegehren vom Ministerium des Inneren, für Digitalisierung und Kommunen (Innenministerium) zuzulassen ist (Verfahren 1 GR 31/24). Den inhaltsgleichen Antrag des Landesvorsitzenden der FDP Michael Theurer und des stellvertretenden Landesvorsitzenden Hans-Ulrich Rülke hat es dagegen aus formalen Gründen zurückgewiesen (Verfahren 1 GR 1/24).
Sachverhalt
Mit Schreiben vom 20. November 2023 übermittelte die FDP Baden-Württemberg dem Innenministerium die Unterschriftslisten des Volksbegehrens „XXL-Landtag verhindern!“. In diesem Schreiben wurden der Landesvorsitzende und der stellvertretende Landesvorsitzende der FDP als sog. Vertrauensleute des Volksbegehrens benannt. Gegenstand des Volksbegehrens ist ein Gesetzentwurf, mit dem die Anzahl der Landtagswahlkreise, in denen jeweils ein Direktkandidat gewählt wird, von derzeit 70 auf 38 reduziert werden soll. Infolge der Wahlrechtsreform 2022 könne es, so die Begründung des Gesetzesentwurfs, wegen zu erwartender Überhang- und Ausgleichsmandate zu einer erheblichen Aufblähung des Landtags über die Mindestgröße von 120 Abgeordneten hinaus kommen. Dieses Risiko werde durch die Verringerung der Anzahl der Direktmandate gesenkt.
Das Innenministerium lehnte am 18. Dezember 2023 den Antrag auf Zulassung des Volksbegehrens mit der Begründung ab, das Vorhaben widerspreche Art. 28 Abs. 1 der Landesverfassung. Bei einer personalisierten Verhältniswahl müsse zumindest die Hälfte der Abgeordneten über die Persönlichkeitswahl bestimmt werden.
Gegen die Ablehnung haben sowohl der Landesvorsitzende und der stellvertretende Landesvorsitzende der FDP als auch, nachdem der Verfassungsgerichtshof auf Zweifel an der Antragsberechtigung hingewiesen hatte, die Erstunterzeichner den Verfassungsgerichtshof angerufen.
Wesentliche Erwägungen des Verfassungsgerichtshofs
Der Antrag des Landesvorsitzenden und des stellvertretenden Landesvorsitzenden der FDP ist unzulässig (Verfahren 1 GR 1/24). Den Antragstellern fehlt die Antragsberechtigung für das gerichtliche Verfahren.
Nach den Regelungen im Volksabstimmungsgesetz sind die Vertrauensleute des Volksbegehrens berechtigt, den Verfassungsgerichtshof anzurufen. Das Recht zur Benennung der Vertrauensleute steht nach dem Volksabstimmungsgesetz (§ 27 Abs. 5 Satz 1 VAbstG) der Gesamtheit der Unterzeichner des Antrags auf Zulassung des Volksbegehrens zu. Juristische Personen oder andere Vereinigungen und damit auch politische Parteien können zwar in tatsächlicher Hinsicht die Initiatoren, nicht aber die Antragsteller eines Volksbegehrens sein. Die nachträgliche Benennung der Vertrauensleute durch die FDP Baden-Württemberg im Übermittlungsschreiben vom 20. November 2023 war daher nicht ausreichend.
Nach dem Volksabstimmungsgesetz (§ 27 Abs. 5 Satz 2 VAbstG) gelten deshalb die beiden ersten Unterzeichner des Antrags als Vertrauensleute. Auf ihren zulässigen Antrag hin hat der Verfassungsgerichtshof festgestellt, dass das Volksbegehren zuzulassen ist (Verfahren 1 GR 31/24).
Die Landesverfassung schreibt in Art. 28 Abs. 1 vor, dass die Abgeordneten des Landtags nach einem Verfahren gewählt werden müssen, das die Persönlichkeitswahl mit den Grundsätzen der Verhältniswahl verbindet. Beide Systembestandteile sind für den Gesetzgeber nicht disponibel, sondern müssen bei jeder Ausgestaltung des Wahlsystems in substantieller Weise berücksichtigt werden. Ein Rangverhältnis zwischen der Persönlichkeits- und der Verhältniswahl lässt sich der Verfassung aber nicht entnehmen. Insbesondere gibt die Landesverfassung nicht vor, dass mindestens die Hälfte der Abgeordneten (gemessen an der einfachgesetzlichen Mindestgröße des Landtags) durch eine Persönlichkeitswahl gewählt werden muss. Vielmehr verfügt der Gesetzgeber über einen weiten Gestaltungsspielraum, wie die beiden Elemente im konkreten Wahlsystem verwirklicht werden.
Nach der geplanten Reduzierung der Wahlkreise von 70 auf 38 bei gleichbleibender Mindestgröße des Landtags von 120 Abgeordneten überwiegt zwar das Element der Verhältniswahl das Persönlichkeitswahlelement nochmals deutlicher als derzeit. Dennoch wahrt der Gesetzentwurf des Volksbegehrens „XXL-Landtag verhindern!“ noch ein angemessenes Verhältnis der Elemente der Persönlichkeits‑ und der Verhältniswahl. Der beabsichtigte Anteil der in den Wahlkreisen direkt gewählten Abgeordneten bewegt sich in der Größenordnung von knapp einem Drittel der Gesamtzahl der Abgeordneten. Damit nähert sich das vorgeschlagene Wahlsystem zwar der Grenze des Gestaltungsspielraums aus Art. 28 Abs. 1 LV. Die direkt gewählten Abgeordneten stellen aber noch einen erheblichen Anteil an der Gesamtzahl der Abgeordneten. Damit würde das Element der Persönlichkeitswahl das Wahlsystem noch hinreichend substantiell prägen. Das Volksbegehren verfolgt mit dem Ziel, die Größe des Landtags auf die Mindestgröße von 120 Abgeordneten oder eine allenfalls geringfügig höhere Zahl zu begrenzen, ein legitimes Anliegen. Für die Anzahl von 38 Direktmandaten sprechen hinreichende sachliche Gründe, da sie die Übernahme der derzeitigen Bundestagswahlkreise ermöglicht.
Weiteres Verfahren
Das Volksbegehren ist nunmehr vom Innenministerium zuzulassen und öffentlich bekanntzumachen. Daran schließt sich die Sammlung der Unterschriften zur Unterstützung des Volksbegehrens an. Sofern das Volksbegehren durch die erforderliche Zahl von 10% der Wahlberechtigten unterstützt wird, kommt es, wenn der Landtag der Gesetzesvorlage nicht unverändert zustimmt, zu einer Volksabstimmung. Nach der übereinstimmenden Einschätzung der Beteiligten des vorliegenden Verfahrens ist damit nicht mehr vor dem nächsten Wahltermin im Frühjahr 2026 zu rechnen.
Zitierte Rechtsvorschriften
Art. 28 Abs. 1 der Landesverfassung:
Die Abgeordneten werden nach einem Verfahren gewählt, das die Persönlichkeitswahl mit den Grundsätzen der Verhältniswahl verbindet.
§ 27 Volksabstimmungsgesetz
Antrag auf Zulassung des Volksbegehrens
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(4) Der Antrag bedarf der Unterschriften von mindestens 10 000 Unterzeichnern, die im Zeitpunkt der Unterzeichnung zum Landtag wahlberechtigt sein müssen. ...
(5) In dem Antrag sollen zwei Vertrauensleute benannt werden. Sind keine Vertrauensleute benannt, gelten die beiden ersten Unterzeichner des Antrags als Vertrauensleute. ...
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