Pressemitteilung

Einsprüche gegen die Volksabstimmung zu Stuttgart 21 zurückgewiesen

Der Staatsgerichtshof hat Einsprüche gegen die Volksabstimmung zu Stuttgart 21 zurückgewiesen.

I.
Volksabstimmungen können beim Staatsgerichtshof für das Land Baden - Württemberg mittels Einspruchs angefochten werden.  Auf den Einspruch hat der Staatsgerichtshof Volksabstimmungen insoweit für ungültig zu erklären, als der Erfolg der Abstimmung durch die in § 21 Abs. 4 Ziff. 1 oder 2 des Volksabstimmungsgesetzes (VAbstG) genannten Gründe (s. Anhang) beeinflusst worden sein kann.

Gegen die Volksabstimmung über den Entwurf der Landesregierung zu einem S21-Kündigungsgesetz haben insgesamt 18 Bürger Einspruch erhoben, zudem ging ein anonymer Einspruch ein; drei Bürger waren durch einen Rechtsanwalt vertreten. Der Staatsgerichtshof für das Land Baden-Württemberg hatte bereits mit Beschluss vom 22. März 2012 einen Einspruch als offensichtlich unbegründet verworfen; mit Beschlüssen vom 22. Mai 2012 hat er die Einsprüche der weiteren 17 Bürger als unzulässig bzw. als offensichtlich unbegründet zurückgewiesen.

II.
Mehrere Antragsteller hatten sich in ihren Einsprüchen mit der Frage der Verfassungsmäßigkeit des zur Abstimmung gestellten Gesetzes beschäftigt. Der Entwurf des S21-Kündigungsgesetzes sei aus mehreren Gründen verfassungswidrig. Für die dort geregelte Materie sei der Bund ausschließlich zuständig gewesen. Ferner habe es sich um ein unzulässiges Einzelfallgesetz gehandelt, das auch gegen das Rückwirkungsverbot verstoße. Da die von dem Gesetzentwurf vorausgesetzten Kündigungsrechte in Wirklichkeit nicht gegeben gewesen seien, liege auch eine Verletzung des Rechtsstaats- und des Demokratieprinzips sowie des Transparenzgebotes der Landesverfassung vor.
 
Weiter wurde in den Einsprüchen u.a. geltend gemacht:
Die Befürworter des Projekts Stuttgart 21 hätten die Bevölkerung mit Unwahrheiten über Kosten, Ausstiegskosten und Leistungsfähigkeit massiv getäuscht und sich damit der Wählertäuschung (§ 108a Strafgesetzbuch (StGB)) schuldig gemacht. Aus den von der Landesabstimmungsleiterin gemeinsam mit dem Innenministerium herausgegebenen Hinweisen vom 29.09.2011 für die Volksabstimmung, die falsche rechtliche Hinweise in Bezug auf das Verhalten und Äußerungen von Amtsträgern im Vorfeld der Wahl enthalten hätten, ergebe sich ein Verstoß gegen § 21 Abs. 4 Nr. 1 VAbstG i.V.m. § 3 Landesstimmordnung (LStO) und § 4 Landeswahlordnung (LWO). In den erwähnten Hinweisen sei die Auffassung vertreten worden, dass alle Abstimmungsorgane und sonstige mit der Durchführung der Volksabstimmung befassten Personen einem strikten Neutralitätsgebot unterlägen, während außerhalb dieses Bereichs bei Volksabstimmungen das weniger strenge Sachlichkeits- bzw. Objektivitätsgebot gelte. Diese Ansicht verkenne die Rechtslage und sei greifbar falsch.

Ferner liege ein Verstoß gegen §§ 1, 5 ff. VAbstG darin, dass die Landesregierung eine Abstimmungsinformation versandt habe. Überdies sei die Broschüre nicht an alle Abstimmungsberechtigten, sondern nur an alle Haushalte versandt worden.

Die Fragestellung der Volksabstimmung sei unnötig kompliziert und damit unzulässig gewesen, weil die Befürworter des Projekts Stuttgart 21 mit „Nein“, die Gegner mit „Ja“ hätten abstimmen müssen. Unzulässig sei auch der „Propagandabrief“ des Stuttgarter Oberbürgermeisters Dr. Schuster an alle Stuttgarter Haushalte gewesen.

Das in Art. 60 Abs. 5 Satz 3 Landesverfassung (LV) festgelegte Quorum verstoße gegen Art. 64 Abs. 1 Satz 2 LV und gegen den Grundsatz der Stimmrechtsgleichheit.

III.
Der Staatsgerichtshof führt in den Beschlüssen im Einzelnen aus, dass die Einsprüche teils unzulässig, teils offensichtlich unbegründet seien.

1. Soweit die Antragsteller die Verfassungswidrigkeit des Entwurfs des S21-Kündigungsgesetzes sowie den Verstoß von Vorschriften der Landesverfassung gegen das Grundgesetz geltend machen, seien die Einsprüche unzulässig. Diese Fragen könnten nicht Gegenstand der rechtlichen Überprüfung durch den Staatsgerichtshof im Verfahren nach § 21 VAbstG sein.

Nach § 21 Abs. 4 VAbstG habe der Staatsgerichtshof Volksabstimmungen auf Einspruch - nur - insoweit für ungültig zu erklären, als der Erfolg der Abstimmung (§ 18 Abs. 3 Satz 2 VAbstG) dadurch beeinflusst worden sein kann, dass bei der Vorbereitung oder Durchführung der Volksabstimmung zwingende Vorschriften des Volksabstimmungsgesetzes oder der Stimmordnung unbeachtet geblieben oder unrichtig angewendet worden oder in Bezug auf die Volksabstimmung vollendete Vergehen im Sinne der §§ 107, 107a, 107b, 107c, 108, 108a oder 108b StGB begangen worden seien.

Danach schließe § 21 Abs. 4 VAbstG insbesondere alle Rügen von der Überprüfung durch den Staatsgerichtshof aus, die sich auf die Verfassungswidrigkeit des zur Abstimmung gestellten Gesetzentwurfs oder des Projekts Stuttgart 21 selbst bezögen. Ebenso ausgeschlossen sei es, auf diesem Wege eine Überprüfung des „materiellen“ Volks¬abstimmungsrechts auf seine Verfassungsmäßigkeit herbeiführen zu wollen.

2. Offensichtlich unbegründet seien die Einsprüche gewesen, soweit die Antragsteller eine Verletzung des Neutralitätsgebots von Amtspersonen oder Wahlfälschungen geltend machten oder sich auf Wählertäuschung beriefen.

Diesem und ähnlichem Vorbringen der Antragsteller sei ein Rechtsfehler im Sinne des § 21 Abs. 4 VAbstG nicht zu entnehmen.

a) Nach § 4 Abs. 4 VAbstG i.V.m. § 16 Abs. 2 Landtagswahlgesetz seien zwar alle Abstimmungsorgane zur unparteiischen Wahrnehmung ihres Amtes verpflichtet. Diese Pflicht treffe jedoch nur die Abstimmungsorgane und sonstige mit der Vorbereitung und Durchführung der Volksabstimmung befasste Personen; sie gelte bspw. auch nicht für einen Oberbürgermeister, der solche Aufgaben auf andere Bedienstete der Stadt übertragen habe. Die Rügen des Antragstellers bezögen sich jedoch nicht auf das Verhalten solcher Organe und Personen. Für Amtsträger, die weder Abstimmungsorgane noch sonst unmittelbar mit der Vorbereitung und Durchführung der Volksabstimmung befasst seien, gelte im Vorfeld einer Volksabstimmung kein Gebot zu strikter Neutralität, sondern nur ein Sachlichkeitsgebot. Dieses sei hier nicht verletzt.

So sei das Eintreten von Mitgliedern der Landesregierung und des Landtags für eine bestimmte Haltung zu dem Entwurf des S21-Kündigungsgesetzes gerechtfertigt gewesen. Allgemein sei den politischen Verfassungsorganen des Landes im Hinblick auf Volksabstimmungen ein legitimes Interesse zuzubilligen, in angemessener Weise ihre Auffassung über die Vor- und Nachteile der einen oder anderen Lösung zu äußern, ihre Politik darzustellen und bisherige Leistungen des Landes zu würdigen. Sowohl Landesregierung als auch Landtag hätten bei der Herbeiführung der hier in Rede stehenden Volksabstimmung überdies einen aktiven Status inne gehabt, der der Funktion eines Initiators der Volksabstimmung gleichkomme. Es wäre widersprüchlich, wenn die Landesverfassung einerseits in Art. 60 Landesregierung und Landtag dazu ermächtige, die Volksabstimmung herbeizuführen, es ihnen aber dann verwehre, in sachlicher und angemessener Form dazu öffentlich Stellung zu nehmen.

Ein hinreichender Grund für eine Stellungnahme ergebe sich ferner aus der Funktion des Staatsvolks als Gesetzgeber im Rahmen der Volksabstimmung. Die Stimmberechtigten könnten nur dann ihrer Verantwortung für das Zustandekommen eines Gesetzes im Wege der Volksabstimmung gerecht werden, wenn sie vor ihrer Entscheidung hinreichend informiert seien und auch die Auffassung der anderen Verfassungsorgane - namentlich der Landesregierung und des Landtags - kennten.

Ein entsprechendes Recht zur sachlichen Äußerung sei u.a. auch den Gemeinden, Gemeindeverbänden und Landkreisen sowie den Industrie- und Handelskammern zuzubilligen.

b) Soweit einzelne Antragsteller den Vorwurf der Wählertäuschung (§ 21 Abs. 4 VAbstG i.V.m. § 108a StGB) erheben, lasse sich dem Vorbringen schon nicht entnehmen, dass der objektive Tatbestand des § 108a StGB erfüllt sein könnte.

Die Tathandlung des § 108a StGB sei eine täuschende Einwirkung auf den Wahlberechtigten, die zu dem Erfolg führt, dass der Getäuschte bei der Stimmabgabe über den Inhalt seiner Erklärung irrt oder nicht einmal erkennt, dass er wählt (bzw. abstimmt), oder nicht oder ungültig wählt, obwohl er dies nicht will. Der Täter müsse also die eigene Willensentschließung des Wählers oder Abstimmenden verhindern; eine „lügnerische Wahlpropaganda“, die den Wähler zur Stimmabgabe in einem bestimmten Sinne veranlasst, sei bereits vom Tatbestand des § 108a StGB nicht erfasst. Ein Erfolg von Einsprüchen sei mit diesem Vorbringen daher von vornherein ausgeschlossen.


IV.
Der Staatsgerichtshof hat nach Beratung am 22. Mai 2012 mit Zustimmung aller Richter durch Beschlüsse nach § 17 Satz 2 StGHG ohne mündliche Verhandlung entschieden.

Ein Einspruch kann im schriftlichen Verfahren nach § 17 Satz 2 StGHG verworfen werden, wenn er formwidrig, unzulässig oder offensichtlich unbegründet oder von einem Nichtberechtigten gestellt ist, sofern sämtliche Richter zustimmen. Diese Voraussetzungen waren nach Auffassung des Gerichts in allen Verfahren gegeben.

Soweit die Einsprüche zulässig seien, sei durchweg ihre Unbegründetheit offensichtlich. Für die offensichtliche Unbegründetheit im Sinne des § 17 Satz 2 StGHG sei maßgebend, ob das Gericht zum Zeitpunkt der Entscheidung der Auffassung ist, dass - auch über das von den Prozessbeteiligten Vorgetragene hinaus - kein Gesichtspunkt erkennbar ist, der dem gestellten Antrag zum Erfolg verhelfen könnte. Das Erfordernis der Einstimmigkeit sei insoweit hinlänglicher Schutz der Interessen der Antragsteller.

Anlage


§ 21 VAbstG: (1) Volksabstimmungen können beim Staatsgerichtshof mittels Einspruchs angefochten werden. Der Einspruch kann auf die Anfechtung der Volksabstimmung in einzelnen Stimmkreisen oder Stimmbezirken beschränkt werden.
(2) Einspruchsberechtigt ist jeder Stimmberechtigte, in amtlicher Eigenschaft auch der Landesabstimmungsleiter. Der Einspruch muss binnen eines Monats nach der öffentlichen Bekanntmachung des Abstimmungsergebnisses (§ 19) schriftlich beim Staatsgerichtshof eingereicht werden; er ist zu begründen.
(3) Wer Einspruch eingelegt hat, ist Antragsteller im Sinne von § 9 Abs. 1 des Gesetzes über den Staatsgerichtshof vom 13. Dezember 1954 (GBl. S. 171). Prozessbeteiligte im Sinne dieser Vorschrift sind außerdem das Innenministerium, der Landesabstimmungsleiter, auch wenn er nicht Antragsteller ist, und der oder die zuständigen Kreisabstimmungsleiter, wenn Maßnahmen oder Entscheidungen auf der Kreis- oder Gemeindestufe zu der Anfechtung der Volksabstimmung Veranlassung gegeben haben.
(4) Der Staatsgerichtshof hat Volksabstimmungen auf Einspruch insoweit für ungültig zu erklären, als der Erfolg der Abstimmung (§ 18 Abs.3 Satz 2) dadurch beeinflusst worden sein kann, dass
1. bei der Vorbereitung oder Durchführung der Volksabstimmung zwingende Vorschriften dieses Gesetzes oder der Stimmordnung unbeachtet geblieben oder unrichtig angewendet worden sind
oder
2. in Bezug auf die Volksabstimmung vollendete Vergehen im Sinne der §§ 107, 107 a, 107 b, 107 c, 108, 108 a oder 108 b in Verbindung mit § 108 d oder im Sinne des § 240 des Strafgesetzbuchs begangen worden sind.
(5) …


§ 17 StGHG: Entscheidungen, die außerhalb der mündlichen Verhandlung nötig werden, trifft der Vorsitzende mit Zustimmung von mindestens zwei Richtern. Ein Antrag auf Eröffnung des Verfahrens, der formwidrig, unzulässig, verspätet oder offensichtlich unbegründet oder von einem Nichtberechtigten gestellt ist, kann im schriftlichen Verfahren verworfen werden, sofern sämtliche Richter zustimmen. Die Entscheidung erfolgt durch Beschluss, der keiner Begründung bedarf.

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